Der Rächer auf dem Becher
Objekt des Monats Januar 2024
Unser Objekt des Monats führt uns in die Welt antiker Mythen. Es handelt sich um einen rund 460 Gramm schweren Silberbecher, der 1848 in Manching beim Pflügen eines Ackers zutage kam. Noch im selben Jahr erwarb die königliche Sammlung in München das Fundstück für 75 Dukaten.
Das Original befindet sich heute in den Staatlichen Antikensammlungen am Münchner Königsplatz. Eine Kopie ist in der Dauerausstellung des kelten römer museums manching zu bewundern.
Aufgrund der Gusstechnik wurde der Becher in das 2. Jahrhundert n. Chr. datiert. Den Abnutzungsspuren zufolge muss er länger in Gebrauch gewesen sein und diente vielleicht als Trinkgefäß.
Die zentrale Szene des reichen Figurenschmucks zeigt einen nackten Jüngling, der auf einem Felsen thront. Gebieterisch streckt er seine Hand in Richtung eines ebenfalls nackten Kriegers mit gezücktem Schwert aus, der einen gefesselten Gefangenen zu Boden drückt. Dieser ist anhand seiner langärmeligen Kleidung und des struppigen Bartes als »Barbar« gekennzeichnet. Im Hintergrund überblickt die Göttin Athena (römisch: Minerva) das Geschehen. Der übrige Fries zeigt weitere Krieger, die »Barbaren« bewachen sowie trauernde Frauen mit Kindern.
Der Becher präsentiert wohl eine mythische Episode, sicher eine Begebenheit aus dem Trojanischen Krieg – doch welche?
Lange wurde die Schlüsselszene als Darstellung des Neoptolemos gedeutet: Aus Rache für den Tod seines Vaters Achilles, der im Kampf um Troja gefallen war, will Neoptolemos nach der Eroberung der Stadt durch die Griechen zahlreiche trojanische Gefangene am Grab des Helden abschlachten lassen, darunter auch den trojanischen König Priamos und die Prinzessin Polyxena. Doch die Göttin Athena schreitet in letzter Sekunde ein und bewegt Neoptolemos dazu, die Unglückseligen zu begnadigen.
Diese Interpretation des Reliefschmucks lässt sich allerdings nur schwer mit der literarischen Tradition in Einklang bringen. In jüngerer Zeit wurde noch eine andere Deutung der Darstellung vorgeschlagen, in Anlehnung an eine Episode des Trojanischen Kriegs, die eine Schriftquelle aus der römischen Kaiserzeit überliefert: Achilles erteilt den Befehl, am Grab seines besten Freundes Patroklos zahlreiche Trojanerinnen und Trojaner zu opfern, um den Geist des Verstorbenen zu besänftigen.
Doch spiegelt der Becher damit auch Vorstellungen seiner Zeit wider? Aus römischer Sicht stand der mythische Sieg der Griechen über die Trojaner vielleicht für die Unterwerfung von »Barbaren«.
Doch wurde nicht der trojanische Held Aeneas als sagenhafter Ahnherr Roms verehrt? Hier mag das römische Selbstbewusstsein die Oberhand gewonnen haben: So wie der griechische Held mit einem Wink über das Schicksal der trojanischen Besiegten entscheiden konnte, so mochte auch das Imperium seine »barbarischen« Feinde unter das Joch zwingen.
Markus Strathaus
Literatur
Volker Michael Strocka, Der Manchinger Silberbecher. Eine Fehldeutung und ihre Folge, in: Bonner Jahrbücher 215, 2015, 323–352
Weitere Infos
Das Objekt bei Bavarikon
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