Vor 40 Jahren: Ein Träumchen von einem Bäumchen

Objekt des Monats Oktober 2024

Keltisches Kultbäumchen aus dem Oppidum von Manching: links das Original und rechts eine Rekonstruktion.
Detail des Kultbäumchens aus Manching: links das Original und rechts eine Rekonstruktion.

»Manching, 30. Oktober 1984: Ein kühler, nebliger Herbsttag am Ende des sechsten Grabungsmonats. Die weite Donauebene bildete seit Tagen einen Kältesee, den nur gelegentlich ein Sonnenstrahl durchdrang.« Der Anfang des Artikels, den Archäologe Ferdinand Maier (1925–2014) im Jahre 1990 in der Fachzeitschrift Germania veröffentlichte, liest sich fast wie ein Abenteuerroman. Aus archäologischer Sicht sollte dieser Tag in der Tat aufregend werden. Nicht etwa nur, weil ihn der Kalender, wie Maier ausdrücklich betont, als Weltspartag auswies, sondern vor allem, weil »einer meiner Mitarbeiter winkend und mit allen Anzeichen höchst geheimnisvoller Überraschung direkt auf mich zugerannt kam.« Was für einen sensationellen Fund hatte das Grabungsteam gemacht?

In einer Grube im Nordareal des Oppidums, die man zunächst für ein Pfostenloch hielt, waren unzählige filigrane Blattgoldfragmente ans Licht gekommen. Recht schnell wurde den Forschenden klar, dass die komplette Grubenfüllung mit feinen Blattgoldstreifen durchsetzt war.

Der Befund wurde im Block geborgen, erste Röntgenaufnahmen in der Prähistorischen Staatssammlung in München (heute: Archäologische Staatssammlung) ließen jedoch vorerst nur die Umrisse mysteriöser kreis- und herzförmiger Objekte sichtbar werden. Weitere Röntgen-Untersuchungen im Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz (heute: Leibniz-Zentrum für Archäologie) brachten ein wenig mehr Licht in die Sache: Offenbar handelte es sich um efeuartige Blätter mit gebogenen Stängeln und kleinen, an Eicheln erinnernde Knospen.

Handelte es sich um einen vergoldeten Blatt-Kranz, also einen Kopfschmuck? Und welche Pflanze war hier überhaupt gemeint? Die Form der Blätter lässt an Efeu denken – doch Efeu trägt normalerweise keine »Früchte«, die an Eicheln erinnern. Der Fund gab jede Menge Rätsel auf.

Erst eine behutsame Entnahme der Fragmente, eine akribische Restaurierung sowie die anschließende Rekonstruktion vermochten das Geheimnis der Grube schließlich zu lüften: Der Inhalt des Blocks entpuppte als ein ca. 70 cm hohes Bäumchen. Der ursprünglich feine hölzerne Stamm war, ebenso wie die ca. 5 cm großen bronzenen Blättchen, die er trug, mit einer hauchdünnen Goldfolie überzogen. Ober- und unterhalb des Bäumchens befand sich jeweils eine weitere filigrane Schicht aus Blattgoldfragmenten und Holzpartikel – wohl eine Art hölzerner Schrein zur Aufbewahrung des Bäumchens.

Über die Goldschmiedetechnik führte eine Spur zunächst ins apulische Tarent. Die antike griechische Stadt galt in der Zeit zwischen dem 6. und dem 3. Jahrhundert v. Chr. als ein Zentrum der Goldschmiedekunst. Vergoldete Efeu-Kränze, die als Grabbeigaben in tarentinischen Gräbern dieser Zeit entdeckt wurden, legten aufgrund auffälliger Ähnlichkeiten eine ungefähre Datierung des Manchinger Bäumchens in das 3. Jahrhundert v. Chr. nahe. Doch dessen Schöpfer ließ griechische und keltische Kunst auf einzigartige Art miteinander verschmelzen: Die Goldfolie weist eine typisch keltische Kreisaugenverzierung auf! War es ein keltischer Goldschmied, der im Süden technisch geschult worden war?

So weit, so einzigartig. Aber es bleibt vor allem noch die Frage aller Fragen: »Was hat es zu bedeuten?« Die nähere Umgebung der Fundstelle lieferte keine Hinweise auf eine rituelle Deponierung. Doch Bäume spielten in den religiösen Vorstellungen der Kelten eine wichtige Rolle: Wie der römische Naturforscher Plinius der Ältere berichtet, verwendeten etwa gallische Druiden Mistelzweige in kultischen Ritualen. Wurde das Manchinger Bäumchen also für religiöse Prozessionen verwendet? Kultstatus besitzt es in jedem Fall!

Markus Strathaus


Literatur

F. Maier, Das Manchinger Kultbäumchen. Ein Zeugnis hellenistischer und keltischer Goldschmiedekunst aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., Germania 68/1, 1990, 129–165

F. Maier, Manching und Tarent. Zur Vergoldungstechnik des keltischen Kultbäumchens und hellenistischer Blattkränze, Gemania 76/1, 1998, 177–216

F. Maier, Eiche und Efeu. Zu einer Rekonstruktion des Kultbäumchens von Manching, Germania 79/2, 2001, 297–307

A. Lorentzen, Kultbäumchen. Keltischer Baumkult, in: R. Gebhard (Hrsg.), archäologische staatssammlung münchen. Glanzstücke des Museums (München 2010) 244–245

S. Sievers, Manching. Die Keltenstadt, Führer zu den archäologischen Denkmälern in Bayern – Oberbayern 3, 2. Auflage (Stuttgart 2007) 34–37